Aktuelles Blitzerurteil macht Anhörungsbögen und Bußgeldbescheide angreifbar!
Laut einem aktuellen Urteil des saarländischen Verfassungsgerichtshofes (Lv 7/17) sind Messungen mit Blitzgeräten, welche die Rohmessdaten nicht speichern, nicht verwertbar. Die Bußgeldverfahren sind einzustellen.
Messgeräte dieser Art sind noch weit verbreitet, weshalb es sich lohnen dürfte, bei einem erhaltenen Bußgeldbescheid oder Anhörungsbogen sehr genau hinzusehen.
Wir erklären das aktuelle Blitzerurteil des Verfassungsgerichtshof des Saarlandes und die Auswirkungen auf Bußgeldverfahren in ganz Deutschland!
Inhalte dieser Seite
1. Aktueller Fall vor dem Verfassungsgerichtshof des Saarlandes
2. Angemessene Verteidigung ohne Rohmessdaten unmöglich
3. Auswirkungen auf Messungen bundesweit
4. Aktuelle Entwicklungen zum Blitzer-Urteil
5. Was kann ein Anwalt nach dem vorliegenden aktuellen Urteil bei einer Blitzermessung für Sie tun?
1. Aktueller Fall vor dem Verfassungsgerichtshof des Saarlandes
Verhandelt wurde ein Fall, in dem ein Autofahrer innerorts in Friedrichsthal im Saarland mit 27 km/h zu schnell geblitzt wurde. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mit dem Messgerät Traffistar S350. Das Lasermessgerät ist sehr umstritten, da bei diesem und vielen anderen Blitzern die einzelnen Messdaten nicht gespeichert werden.
Der Autofahrer hatte vergeblich verlangt, dass die Rohmessdaten des Messgerätes in unverschlüsselter Form und die gesamten Messserie am Tag der Messung von der Behörde herausgegeben werde, um die Messung durch einen Sachverständigen prüfen zu lassen. Der von ihm sodann beauftragte Sachverständige erklärte, ohne diese Daten sei eine Überprüfung der Messung nicht möglich.
Es erging trotzdem ein Bußgeldbescheid in Höhe von 100,00 € und ein Punkt im Flensburger Verkehrszentralregister. Hiergegen legte der Autofahrer über einen Anwalt Einspruch ein. Schließlich kam es zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Saarbrücken.
Beweisantrag: Sachverständigengutachten
Es wurde nun durch den Verteidiger der Beweisantrag gestellt, ein Sachverständigengutachten zu der Behauptung einzuholen, dass bei dem Messgerät TraffiStar S350 keine Möglichkeit bestehe, die Messung durch einen Sachverständigen prüfen zu lassen, da das Messgerät nicht alle Messdaten speichere.
Das Amtsgericht Saarbrücken lehnte den Beweisantrag als nicht erforderlich ab und verurteilte wie im Bußgeldbescheid. Auch die Rechtsbeschwerde wurde vom OLG Saarbrücken abgewiesen.
Die Gerichte argumentierten, das Messgerät TraffiStar S350 sei durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) zugelassen. Es handele sich um ein standardisiertes Messverfahren, bei dem erst konkrete Umstände geltend gemacht werden müssten um eine Fehlmessung in Betracht zu ziehen.
Mit der Verfasssungsbeschwerde argumentierte der Betroffene wegen des übergangenen Beweisantrags in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt zu sein.
2. Angemessene Verteidigung ohne Rohmessdaten unmöglich
Der Verfassungsgerichtshof jedoch sah die Sache anders als die Vorinstanzen und hob die Entscheidungen auf. Er entschied, dass das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken und des Saarländischen Oberlandesgerichts den Betroffenen in seinen Grundrechten auf ein faires Verfahren und auf eine wirksame Verteidigung verletze.
Eine Verurteilung nur auf Grundlage des Messergebnisses und des Messfotos des Fahrers sei nicht zulässig. Rüge der Betroffene das Ergebnis der Messung und das Fehlen der Rohmessdaten, sei kein faires rechtsstaatliches Verfahren möglich. Wegen der Nichtzurverfügungstellung der Rohmessdaten, also der originären Beweismittel, sei dem Betroffenen eine angemessene Verteidigung nicht möglich gewesen.
Unmündiges Objekt staatlicher Verfügbarkeit
Der Verteidiger müsse die Möglichkeit haben eigenverantwortlich die Grundlagen der Messung zu prüfen. Alle für die Überprüfung der Messung notwendigen Informationen hätten herausgegeben werden müssen, um die Richtigkeit der Messung zu klären. Ansonsten sei das Gebot der Waffengleichheit verletzt. Es gebe keine zwingenden Gründe die Rohmessdaten nicht zu speichern.
Eine Speicherung der Rohmessdaten sei auch ohne weiteres möglich. Erst die Speicherung erlaube das Ergebnis des Messvorgangs nachprüfen zu können. Auch bei Blutproben oder DNA-Analysen (andere standardisierte Messverfahren) käme niemand auf die Idee, die Proben sofort nach der Analyse zu vernichten und bei Zweifeln an der Richtigkeit sich allein darauf zu verlassen, dass das Ergebnis der standardisierten Untersuchungen meist zutreffe.
Eine Verweisung des Betroffenen darauf, dass alles schon richtig sei, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen.
3. Auswirkungen auf Messungen bundesweit
Die Entscheidung des saarländischen Verfassungsgerichtshofes ist zunächst nur für die saarländischen Gerichte bindend. Es gilt dort unmittelbar auch nur für das Messgerät TraffiStar S 350. In saarländischen Kommunen sind Messungen mit ca. 30 Messgeräten dieser Art betroffen. Bußgelder aufgrund dieser Messgeräte sind im Saarland nicht mehr durchsetzbar.
Dies betrifft derzeitige Bußgeldverfahren und zukünftige, sofern nicht die Rohmessdaten zukünftig durch den Hersteller Jenoptik gespeichert werden.
Bereits gezahlte Bußgelder aufgrund rechtskräftiger Bußgeldbescheide können allerdings nicht zurückverlangt werden. Die Entscheidung stellt eine bahnbrechende Kehrtwende in der Rechtsprechung dar.
Es kann von einer Signalwirkung auch auf die Rechtsprechung der anderen Bundesländer ausgegangen werden. Gerichte anderer Bundesländer werden die Entscheidung zur Kenntnis nehmen und hierauf reagieren. Ansonsten würde es vom Zufall abhängen, in welchem Bundesland der Betroffene geblitzt würde und einen Anspruch auf Überprüfung der Richtigkeit der Messung anhand der Messdaten hat.
Poliscan Speed M1: Entscheidung in Baden-Württemberg erwartet
Aktuell wird zu einem ähnlich gelagerten Fall (hier: Messgerät Poliscan Speed M1 von der Firma Vitronic) beim Verfassungsgerichtshof in Baden-Württemberg eine Entscheidung erwartet.
Eine weitere Verfassungsbeschwerde wurde kürzlich in Rheinland-Pfalz eingereicht.
Betroffen sind nicht nur das Messgerät TraffiStar S350 der Firma Jenoptik, sondern alle Messungen mit Messgeräten, die keine Rohmessdaten abspeichern.
Nach Auskunft unseres Messgutachters sind dies alle Messgeräte außer folgenden Typen:
- ES 3.0
- ES 8.0
- TraffiPhot III
- PoliScan F1HP und FM1, sofern ein reiner Rotlichtverstoß festgestellt wurde
Mit welchem Messgerät geblitzt wurde ist meist durch dessen Bezeichnung auf dem Anhörungsbogen oder Bußgeldbescheid und auch dem Messfoto ersichtlich. Ansonsten kann dies bei der Behörde erfragt werden.
4. Aktuelle Entwicklungen zum Blitzer-Urteil
Im Saarland werden nun (Stand 16.07.19) neben dem Blitzer Traffistar
S350 auch Blitzer vom Typ Poliscan und LEIVTEC XV3 aus dem Verkehr
gezogen. Bußgeldverfahren, die noch nicht rechtskräftig abgeschlossen
sind, werden eingestellt. Fast alle stationären Blitzer müssen
nachgerüstet werden. Mehr dazu erfahren Sie hier.
In Berlin darf derzeit (Stand 16.07.19) nicht mehr mit Blitzern des Typs
Traffistar S350 geblitzt werden. Neun Anlagen wurden abgeschaltet. Weitere Informationen finden Sie in diesem Beitrag.
In Köln erhalten wir den Blitzer Traffistar S350 betreffend nun (Stand 29.07.19), nach Anforderung der Rohmessdaten, die ersten Einstellungen durch das Amtsgericht in laufenden Bußgeldverfahren.
5. Was kann ein Anwalt nach dem vorliegenden aktuellen Urteil bei einer Blitzermessung für Sie tun?
Sollten Sie einen Anhörungsbogen oder einen Bußgeldbescheid erhalten haben, der noch nicht rechtskräftig geworden ist (2 Wochen nach Erhalt des Bußgeldbescheides), können Sie durch einen Rechtsanwalt Akteneinsicht anfordern und prüfen lassen, ob bei dem verwendeten Messverfahren ebenfalls keine Rohmessdaten gespeichert wurden.
Falls dies nicht der Fall sein sollte, bestehen gute Chancen, dies im Bußgeldverfahren zu rügen und zu Ihrem Vorteil geltend zu machen. Im besten Fall wird das Bußgeldverfahren eingestellt oder durch das Gericht der Bußgeldbescheid aufgehoben.
Auch wenn die Rohmessdaten bei Ihrem Messgerät gespeichert worden sein sollten, kann der Anwalt anhand eines Messgutachtens die Messung auf Messfehler hin überprüfen lassen und hier gegebenenfalls Anhaltspunkte für eine Reduzierung des Bußgeldes oder gar Einstellung des Verfahrens ausfindig machen.
Auch ein Absehen vom Fahrverbot kann möglich sein.
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